9. November 1989: Ich war auf der Pressekonferenz, die Geschichte schrieb…

Meine ganz persönlichen Erinnerungen an einen unvergesslichen Abend vor 30 Jahren: Zusammen mit etwa 100 Journalisten-Kollegen nahm ich an der historischen Pressekonferenz von Günter Schabowski teil. Der ehemalige Chefredakteur des Neuen Deutschland und Erste Sekretär der Bezirksleitung der SED von Ost-Berlin war erst seit drei Tagen als Sprecher des Politbüros tätig. Von seinem berühmten „Zettel“ ahnte man nichts – genauso wenig, dass die Verkündung der Reisefreiheit („sofort, unverzüglich“) auf dieser Pressekonferenz den endgültigen Fall der Berliner Mauer noch in dieser Novembernacht herbeiführen sollte.

Der historische Zettel, den Günter Schabowski während der berühmten Pressekonferenz am 9. November 1989 vorlas, beschleunigte – ohne es zu wollen -den Fall der Berliner Mauer. Er befindet sich heute im Haus der Geschichte in Bonn.

Am Vorabend war ich in Ostberlin angekommen. Nach den chaotischen Entwicklungen und Ereignissen der vorangegangenen Wochen in der DDR und dem zunehmenden Druck durch die Montagsdemonstrationen – vor allem in Leipzig –, versprach die Jahrestagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) interessant zu werden. Die Stimmung in der DDR war geladen. Erich Honecker, der die Partei seit 18 Jahren unangefochten beherrscht hatte, war zurückgetreten und musste seinen Stuhl für Egon Krenz räumen. Günter Schabowski, der erst am 6. November 1989 zum Sekretär für Informationswesen des Politbüros ernannt worden war, hatte die Pressekonferenz des Zentralkomitees (ZK) der SED am Abend dieses 9. November einberufen. Er wollte darüber berichten, was den Tag über in den Parteigremien alles besprochen worden war. Das war neu für ein Regime, das es eigentlich nicht gewohnt war bzw. immer vermeidet hatte, zu kommunizieren.

Da Schabowski nicht an allen Konferenzen der Jahrestagung des ZK der SED teilgenommen hatte, erschöpften sich seine Informationen und Antworten weitgehend in den Floskeln des gewohnten Apparatschik-Jargons. Bis zu jenem Moment am Ende der Pressekonferenz, als ein italienischer Journalist der Nachrichtenagentur ANSA nach Details über den Reisegesetzentwurf fragte, verlief die Pressekonferenz ereignislos – obwohl in den vorangegangenen Wochen Hunderte von Ostdeutschen Zuflucht in den Botschaften der BRD in verschiedenen Nachbarländern gesucht hatten : „Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass der Reisegesetzentwurf, den Sie vor einigen Tagen vorgestellt haben, ein großer Fehler war?“ Das Gesetz sollte die private Ausreise von DDR-Bürgern voraussetzungslos regeln. Offensichtlich war dieser Textvorschlag in den letzten 48 Stunden im ZK kontrovers diskutiert worden.

Die Verantwortlichen hatten offenbar erkannt, dass sich die DDR-Bürger, sollte das Reisegesetz in dieser Form beschlossen werden, wohl sehr schnell in den Westen aufmachen würden. Jedenfalls hatte die Parteispitze darüber diskutiert und es wurde auch eine Überarbeitung gefordert.

Nein, das glaube ich nicht“, beginnt Schabowski zu antworten und führt dann aus, man hoffe, die Menschen würden durch verschiedene Maßnahmen, darunter das neue Gesetz über die Reisefreiheit, wieder zurückkehren – vor allem, um Westdeutschland zu entlasten, „weil die BRD große Schwierigkeiten hat, diese Flüchtlinge unterzubringen… Also, die Aufnahmekapazität der BRD ist im Grunde erschöpft,“ fügt er an.

© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1109-030 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de

In diesem Moment erinnert sich Schabowski daran, dass ihm Egon Krenz, der neue starke Mann des Regimes, kurz vor der Pressekonferenz einen Zettel mit den neuen Reiseregelungen zugesteckt hatte, zieht dieses Dokument, von dem auch er erst in diesem Moment Kenntnis nimmt, aus der Tasche und liest mit lauter Stimme: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ … „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden,“ kündigt er an. Die fassungslosen Journalisten wollten dann wissen, ob diese Entscheidung ab sofort gültig ist. Schabowski, zögert einen Moment und antwortet dann mit „Ja“. Nachdem er mehreren weiteren Fragen ausgewichen ist, verlässt er den Raum.

Ich sitze neben dem Außenamtssprecher der DDR und frage ihn, was das genau heißen soll. Dass alle DDR-Bürger ab sofort ohne Beschränkungen ins Ausland reisen dürfen? Er weist das zurück. „Sicherlich nicht,“ sagt er. Aber er gesteht zu, selbst nicht genau verstanden zu haben, was der Sekretär für Informationswesen da gerade zur allgemeinen Überraschung angekündigt hatte.

Der Anfang vom Ende der Mauer

Wie alle meine Kollegen eile ich ins Palast Hotel, wo ich – wie die meisten ausländischen Journalisten – auch wohne, um meine Pariser Redaktion anzurufen. Selbst in diesem „Luxushotel“ Ostberlins, in dem viele Besucher aus dem Westen abstiegen, waren Verbindungen mit dem Ausland nur sehr schwer zu bekommen. Man musste förmlich um die verfügbaren Telefonleitungen kämpfen.

Nachdem ich meinen Artikel geschrieben und durchtelefoniert habe, treffe ich mich mit ostdeutschen Freunden zum Abendessen. Schon bei ihrer Anfahrt hatten sie die ersten Gerüchte, die damals wild zirkulierten, aufgeschnappt. Sie konnten und wollten nicht glauben, dass das, was ihnen seit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 strengstens verboten war, nämlich frei ins Ausland zu reisen, plötzlich – wieder – möglich sein sollte. Wir beschlossen, gemeinsam zum Checkpoint Charlie zu gehen, jenem offiziellen Grenzübergang der Westalliierten, der in der immer noch besetzten Stadt bisher ausschließlich nicht-deutschen Ausländern vorbehalten war.

Dort versammelten sich bereits Menschenmengen – aber von Ostberlin aus! Die Entscheidung der Regierung war bisher jedoch noch nicht bis zum Kontrollpunkt durchgedrungen. Und zwar aus gutem Grund! Später wird bekannt, dass das ZK der SED Auslandsreisen für alle nur unter ganz bestimmten Bedingungen zulassen wollte, und schon gar nicht bereits ab dem 9. November.

Die Menge beginnt, den Druck zu erhöhen. Immer lauter werden die Sprechchöre, die das Recht fordern, auf die andere Seite der Mauer zu wechseln. Aber es war nichts zu machen. Die Grenzschützer hielten ihre Stellungen. Immer mehr Menschen, die jetzt auch neue Informationen aus dem Radio und Fernsehen der BRD bezogen hatten, gesellten sich zur wartenden Menge. Die Stimmung ist gut – fast ausgelassen – und der Ruf nach Öffnung der Grenze wird immer fordernder. Endlich, gegen 23 Uhr, öffnen sich die Tore.

Die Menschen jubeln! Unter dem Beifall der Westberliner, die von der anderen Seite her zur Mauer geströmt kamen, überschreiten wir den Grenzposten nach Kreuzberg und betreten den amerikanischen Sektor. Tränen fließen – meine Freunde können gar nicht glauben, was da gerade geschieht. Wir umarmen uns mit wildfremden Menschen. Von der Menge mitgerissen, setzen auch wir uns in Bewegung und die Westberliner, die den Straßenrand säumen, jubeln uns frenetisch zu, ganz so, als ob wir gerade das Ziel eines Marathonlaufs erreichen würden. Bis 3 Uhr morgens wandeln wir inmitten Tausender anderer Ostberliner durch den Westteil der Stadt und staunen nicht nur vor der Opulenz der Schaufenster am Ku’Damm.

Als wir mit meinen Freunden über denselben Checkpoint Charlie, an dem ein paar Stunden zuvor niemand nach unseren Papieren gefragt hatte, wieder in den Osten zu meinem Hotel zurückkehren wollen, verlangt der Grenzschützer meinem Pass zu sehen. Und als ob es nichts wäre, erklärt er mir, dass ich als Französin jetzt abermals für das Eintrittsvisum nach Ostberlin bezahlen müsse…

Der Traum vom vereinten Deutschland in greifbarer Nähe

Als wir an diesem 9. November 1989 die berühmt-berüchtigte Mauer durchquerten, dachte niemand auch nur einen einzigen Moment daran, dass nicht einmal ein Jahr später die DDR und ihr Regime ein für alle Mal Geschichte sein würden – weder Bundeskanzler Helmut Kohl im Westen noch die Ostdeutschen selbst noch der Rest der Welt!

Die Reaktion der Russen war überhaupt nicht klar. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich Anfang Dezember 1989 nach Paris zurückgekehrt war und ich meinen Eltern eröffnete, dass ich längere Zeit in Berlin bleiben würde und deshalb meine kleine Tochter und ihr Au Pair-Mädchen mitnehmen würde. Mein skeptischer – deutscher – Ehemann, der in Paris arbeitete, und meine Eltern setzten mich unter Druck, damit ich diese Idee fallen ließ. Denn sie waren davon überzeugt, dass sich die Situation in Ostberlin immer noch sehr schnell drehen und zuspitzen würde bis hin zum Einsatz russischer Panzer – die Sowjetunion hatte ja noch 340.000 Soldaten in der DDR stationiert.

Nur Helmut Kohl, der Historiker, hatte sofort verstanden, dass er schnell agieren musste, wollte er den Lauf der Geschichte beeinflussen. Aber nicht einmal sein Zehn-Punkte-Programm, das er am 28. November vor dem Bundestag – und ohne vorherige Abstimmung mit seinem Kabinett, dem Koalitionspartner und den Westalliierten – in einer Rede vorstellte, sah eine derart schnelle Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten voraus. Erst zu Jahresbeginn 1990 ist ihm klar geworden, dass der Traum von einem geeinten Land in der Mitte Europas in greifbare Nähe gerückt worden war. Es setzte politisch alles daran, um die deutsche Einheit zu verwirklichen.

Diese brauchte er auch dringend, wollte er doch wiedergewählt werden. Denn in den aktuellen Umfragen hatte der spätere „Kanzler der Einheit“ die Bundestagswahlen, die turnusgemäß bis Jahresende 1990 stattfinden sollten, noch keineswegs gewonnen. Kohl musste also den schnellen und vollständigen Beitritt der Ostdeutschen zur Bundesrepublik bewerkstelligen. Nach Jahrzehnten des Mangels konnte er sie vor allem damit gewinnen, sollte das überhaupt noch nötig sein, dass er ihnen die D-Mark brachte. So zog er es also vor, die wirtschaftlichen Aspekte der Wiedervereinigung zu ignorieren und versprach „blühende Landschaften“, anstatt auf jene zu hören, die voraussagten, die DDR würde zum „Mezzogiorno“ Deutschlands.

Hunderte Milliarden sollten nicht reichen

Aber die ostdeutsche Wirtschaft lag in Trümmern. Genau das war doch einer der Gründe, warum die Ostdeutschen nach Jahren duldsamen Schweigens endlich auf die Straße gegangen waren. Über das westdeutsche Fernsehen, ihr Fenster zur Welt, hatten sie ihre persönliche Lage mit dem Wohlstand ihrer Landsleuten jahrzehntelang vergleichen können. Der Abstand wurde immer größer!

Sie warteten immer noch auf die Kaffee- und anderen Geschenk-Pakete, die Ihnen ihre Verwandten im Westen immer zu Weihnachten schickten. Schwer vorstellbar für einen jungen Menschen heute, dass die Ostdeutschen im Jahr 1989 mindestens 15 Jahre auf ein Auto warten mussten, bevor sie endlich eines erwerben konnten. Und was für ein Auto…

Nach den von der DDR veröffentlichten Zahlen zählte das Land dennoch zu den zehn führenden Wirtschaftsnationen der Welt! Eine Falschinformation, die der Mauerfall über Nacht deutlich sichtbar machte. Es genügte, ein paar Kombinate zu besuchen, um schnell zu verstehen, dass nicht einmal ein paar hundert Milliarden D-Mark ausreichen würden, um eine Planwirtschaft wieder auf Kurs zu bringen, die sich in den letzten dreißig Jahren unter der politischen Lenkung des Staates kaum entwickelt hatte. Aber seltsamerweise wollten sich die westdeutschen Wirtschaftsinstitute nie ganz der Wahrheit stellen und zugeben, dass der Weg lang und teuer sein würde.

Eine Wirtschaft, die nicht Schritt halten konnte

Fast ein Jahr lang, bis zum 3. Oktober 1990, habe ich Dutzende von sozialistisch organisierten Großbetrieben besucht – in den sogenannten Kombinaten war der Zustand der Produktionsmittel noch schlimmer als man es sich vorgestellt haben mochte. Wie konnte man Ostdeutschland unter diesen Umständen schnell „blühende Landschaften“ versprechen und das Land gleichzeitig von einem Tag auf den anderen liquidieren? Indem man der DDR-Wirtschaft Übergangsregelungen verweigerte, die ihr etwas mehr Zeit zur Anpassung an eine ganz neue Wettbewerbssituation im Kapitalismus verschafft hätten, sank die Überlebenschance der ostdeutschen Betriebe quasi auf null. Dazu kam: Von einem Tag auf den anderen waren ihre traditionellen Abnehmermärkte im Osten Europas zusammengebrochen und im Westen hatten sie ohnehin keine Chance. So musste die ostdeutsche Wirtschaft wieder ganz von vorne anfangen. Das war der Preis, den sie für die politische Wiedervereinigung zu zahlen hatte.

 

 

Bénédicte de Peretti